Der Insolvenzverwalter und VID-Vorsitzende DR. CHRISTOPH NIERING geht davon aus, dass sich wahrscheinlich schon bald niemand mehr vor der Künstlichen Intelligenz verschließen kann. „Je mehr KI im Alltag Einzug hält, desto schneller werden auch in
Insolvenzverfahren alle Beteiligten davon ausgehen, dass sie von Insolvenzverwalterinnen und Insolvenzverwaltern im Interesse der effektiven Verfahrensführung eingesetzt wird.”
Die Fragen stellte DETLEF FLEISCHER.
Herr Dr. Niering – Als Insolvenzverwalter und VID-Vorsitzender werben Sie seit vielen Jahren für ein Insolvenzverfahren 4.0. Mit kam es oft so vor, als könnte Ihnen die Digitalisierung nicht schnell genug gehen. Und während es – nicht zuletzt bei den Gerichten – immer noch hakt und zwickt, rauscht jetzt ein schier unaufhaltsamer KI-Zug auf Ihre Branche zu. Von einem Paradigmenwechsel im Rechtswesen ist bereits die Rede. Geht das jetzt nicht alles viel zu schnell?
Nein, ganz im Gegenteil. Die dynamische Entwicklung der KI hält uns nochmals deutlich den Spiegel vor, dass das Insolvenzverfahren bei weitem noch nicht den möglichen und zugleich notwendigen Digitalisierungsgrad erreicht hat. Die Ansätze des Gesetzgebers und die Umsetzung in der Justizverwaltung sind zu zaghaft. Es fehlt immer noch an der konsequenten Umsetzung seit langer bekannter Digitalisierungspotentiale. Dabei befinden wir uns mit der KI doch schon Mitten im Insolvenzverfahren 5.0.
Was haben Sie bislang in Ihrer eigenen Kanzlei unternommen, um digital auf der Höhe der Zeit zu sein?
Der Zeit voraus zu sein; Entwicklungen antizipieren. Seit mehr als 15 Jahren arbeiten wir papierlos. Fast genauso lange liegt die Einführung unseres ersten Homeoffice-Arbeitsplatzes in Vollzeit zurück. Auch scheuen wir nicht davor zurück bestehende Softwarelücken durch eigens für uns entwickelte Softwarelösungen zu schließen, welche zum Teil sogar staatlich gefördert wurden. Da ist es nun ein konsequenter Schritt, dass wir uns mit einem eigenen Projekt auch dem Thema KI angenommen haben
Verlief die Implementierung digitaler Tools reibungslos oder ist das ein fortlaufender Prozess gewesen, bei dem es auch Rückschläge gab?
Natürlich gibt es eine Lernkurve, die individuell sehr unterschiedlich verlaufen kann. Es ist wichtig, nicht auf eine fehlerlose Implementierung, sondern auf die rechtzeitige Entdeckung von Fehlern zu setzen. Dazu braucht man einen guten und offenen Umgang mit allen Beteiligten. Gefragt ist auch eine gehörige Portion Geduld, denn der Teufel steckt bekanntlich im digitalen Detail.
Als Mensch und Anwalt sind Sie für Ihre soziale Verantwortung bekannt. Jetzt sprechen wir beim Thema KI aber oft davon, dass sie Arbeiten, die bislang Menschen durchgeführt haben, schnell und kostengünstig erledigen kann. Wo bleibt dann der einzelne Mitarbeiter? Wird man Arbeitnehmer entlassen müssen oder werden sich genügend andere Aufgaben finden lassen, mit denen man Menschen sinnvoll und sinnstiftend in einer Insolvenzverwalterkanzlei beschäftigen kann?
Ich bin mir sicher, dass die Einsatzbereiche von KI-Assistenten vor allem dort liegen werden, wo heute ungeliebte und mühsame Aufgaben erledigt werden müssen, die zwar notwendig aber nicht unbedingt interessant sind. Das zusammentragen und analysieren von Informationen bei der Ermittlung der Insolvenzgründe könnte so ein Einsatzbereich sein. Das ersetzt dann aber nicht die Beurteilung durch erfahrene und umsichtige Mitarbeiter. In vielen Fällen wird es eher sosein, dass sich wegen des Einsatzes von KI-Assistenten neue Aufgabenfelder bilden. Wenn mehr Zeit für weitergehende Analysen und Untersuchungen bleibt, dann wird sich auch der Anspruch an die Tätigkeit verändern. Das gilt für Mitarbeitenden wie für Verfahrensbeteiligten und Gerichte.
In einer repräsentativen Umfrage von Allianz Trade zum Thema Generative Künstliche Intelligenz äußerten mehr als ein Drittel der Befragten Bedenken hinsichtlich der Risiken von KI. Besonders die Angst um Arbeitsplätze ist groß. Mit 47 % erwarten fast die Hälfte der Befragten, dass KI die Zahl der verfügbaren Arbeitsplätze verringern wird. Demgegenüber steht die Auffassung, dass in Zeiten des demographischen Wandels und des Fachkräftemangels die KI-Revolution auch zum Glücksfall werden könnte. Was erwarten Sie?
Aus meiner Sicht wird KI viele Tätigkeiten interessanter machen, weil sie von Aufgaben entlastet werden, die oft als ermüdend, repetitiv und reizlos empfunden werden. Der Fachkräftemangel ist nicht selten auch ein Mangel an Interesse an solchen Aufgaben. Wer sein Gehalt zum Teil als Schmerzensgeld empfindet, der sieht sich lieber nach anderen Aufgaben um. KI-Assistenten können also dabei helfen, die Attraktivität der verbleibenden Aufgaben zu steigern. Wenn Arbeitgeber aufgrund der demographischen Entwicklung verstärkt um Arbeitnehmer werben müssen, dann ist das ein sehr wichtiger Aspekt.
Auch Ihre Branche leidet unter dem Fach- und Arbeitskräftemangel. Wird man beim Recruiting zukünftig verstärkt darauf achten, welche KI-Kompetenzen ein Bewerber hat? Und andere, einstmals wichtige Eigenschaften und Fähigkeiten, hintenanstellen?
Ich glaube, dass die Fähigkeit zur Formulierung von guten Prompts bald in den Hintergrund rücken wird. KI-Prompter sind im Moment sehr gesucht. Ihre Tätigkeit wird aber bei der aktuellen Geschwindigkeit der Entwicklung bald von Assistenzsystemen übernommen werden, die auch weniger KI-erfahrenen Mitarbeitern bei der Formulierung helfen. Dann wird es wieder um Fähigkeiten gehen, die durch Erfahrung und fachliche sowie soziale Kompetenz entwickelt werden.
KI-gestützte Software kann bereits heute viele juristische Dokumente automatisiert erstellen. Datenbanken können in Sekundenbruchteilen durchsucht und relevante Präzedenzfälle oder Gesetzesartikel und Urteile herausgefiltert werden. Kommt der Mensch intellektuell überhaupt noch mit, um aus den erzielten Ergebnissen die notwendigen Schlüsse zu ziehen? Ironisch gefragt: Sollte man diese Aufgabe konsequenterweise nicht auch direkt an die KI delegieren?
Die Anwendung im konkreten Fall setzt neben der Zusammenführung von Filterung rechtlicher Informationen zuerst die Analyse der Umstände voraus, in denen diese Informationen bedeutsam sind. Es müssen also zunächst alle relevanten Details ermittelt werden, bevor man über rechtliche Fragen nachdenkt. Danach gibt es immer noch die Frage nach dem Gewicht einzelner Umstände, die von Fall zu Fall unterschiedlich beantwortet werden muss, wenn unterschiedliche Konstellationen oder Abläufe festgestellt werden. Diese Subsumtion bleibt eine Aufgabe, die sich wahrscheinlich nicht oder zumindest nicht so schnell an eine KI delegieren lässt.
Teilen Sie meine Sorge, dass sich das Qualifikationsgefälle und die Ungleichheit mit der zunehmenden Verbreitung von KI in allen Bereichen unseres (Berufs-) Lebens vergrößern könnte? Es gibt warnende Stimmen, die vorhersagen, dass Gebildete und Intelligente immer schlauer werden und der große Rest – vorsichtig ausgedrückt – auf der Strecke bleibt. Diese weiter auseinander gehende Schere kann letztendlich doch nicht ohne Auswirkungen auf unsere Gesellschaft bleiben, oder?
Das klingt jetzt für mich zu pessimistisch. KI kann doch auch ein Instrument zur Egalisierung von tatsächlichen oder vermeintlichen Vorteilen sein, die durch Bildung entstehen. Wenn jeder sich bei bestimmten komplizierten Fragen eine Erklärung in verständlicher Sprache von der KI geben lassen kann, dann fällt es ihm jedenfalls leichter sich eine eigene Meinung zu bilden und Kompetenz aufzubauen.
Wo sehen Sie konkret einen effektiven und effizienten Einsatz von KI im Rahmen eines Insolvenz und Sanierungsverfahrens?
Überall dort, wo es um die Zusammenführung und Analyse von Informationen geht. Gerade in Massenverfahren mit sehr vergleichbaren Verfahrensabläufen, wie bei Verbraucherinsolvenzverfahren, dürften sich sehr gut eignen.
Stimmen Sie der Aussage zu, dass KI die Art und Weise, wie Insolvenzverwalter ihre Aufgaben angehen, radikal verändern wird?
Die Kernaufgaben werden sich nicht verändern, aber vieles wird schneller erstellt und entschieden werden können. Ob das auch die Herangehensweise verändern wird, kann man jetzt noch nicht beurteilen. In jedem Fall kann die gewonnene Zeit für den persönlichen Austausch mit den Beteiligten und eine vertiefte Analyse des Verfahrens genutzt werde.
Sehen Sie zumindest mittelfristig noch die Chance, dass diejenigen in Ihrer Branche, die sich diesem KI-Hype nicht anschließen, eine realistische Chance haben, am Markt zu bestehen?
Ich würde die Entwicklung zu KI-Assistenten nicht als Hype bezeichnen. Das ist eine sehr ernstzunehmende technische Entwicklung, der sich wahrscheinlich schon bald niemand mehr verschließen kann. Je mehr KI im Alltag Einzug hält, desto schneller werden auch in Insolvenzverfahren alle Beteiligten davon ausgehen, dass sie von Insolvenzverwalterinnen und Insolvenzverwaltern im Interesse der effektiven Verfahrensführung eingesetzt wird.
Was kann bzw. was sollte der VID seinen Mitgliedern raten bzw. ihnen – zum Beispiel im Rahmen von nicht interessensgesteuerten Workshops – anbieten?
Darüber diskutieren wir in Vorstand und Beirat. Informationen stehen an erster Stelle, weil jede Kollegin und jeder Kollege selbst entscheiden muss, wie weit und wie schnell die eigene Infrastruktur angepasst werden kann. Unser VID-Ausschuss Digitalisierung hat sich dem Thema bereits intensiv angenommen und öffnet zum Thema KI am 11.09.2024 seine Ausschusssitzung im digitalen Format für alle Mitgliedern.
Ihre Erwartungen an Software-Hersteller und KI-Anbieter?
Schnelle und praxistaugliche KI-Assistenten für Standardprozessabläufe, die im Rahmen von Restrukturierungs- und Insolvenzverfahren regelmäßig bewältigt werden müssen. Hier darf von Anbieterseite aber nicht zu kurz gesprungen werden in dem nur auf kleinere Prozessschritte wie etwa der Forderungsanmeldung abgestellt wird. Der große Wurf eines radikalen Umdenkens, eben ein Insolvenzverfahren 5.0 ist gefragt.
Zum Schluss noch eine Frage zur Haftung. Wer trägt eigentlich in Ihren Augen die Verantwortung für KI-basierte Entscheidungsprozesse? Nach deutschem Recht kann nur derjenige haften, dem per Gesetz eine Rechtspersönlichkeit zugesprochen wird. Eine Maschine oder eine Software ist das nicht …
Im Rahmen von Insolvenzverfahren stellt sich diese Frage nach meinem Eindruck nicht. § 60 Abs.1 InsO ist da eindeutig: „Der Insolvenzverwalter ist allen Beteiligten zum Schadenersatz verpflichtet, wenn er schuldhaft die Pflichten verletzt, die ihm nach diesem Gesetz obliegen. Er hat für die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Insolvenzverwalters einzustehen.” Hier kann sich kein Funktionsträger darauf zurückziehen, dass die Maschine und nicht er selbst entschieden hätte.