Durch die Coronakrise sieht sich fast jedes fünfte Unternehmen in Deutschland bedroht. Das geht aus der neuesten Konjunkturumfrage des ifo Instituts hervor. Fragen an ANDRÉ DOBIEY, Fachanwalt für Insolvenzrecht in der Kanzlei NIERING STOCK TÖMP.
Herr Dobiey – Hat Sie die die jüngste Konjunkturumfrage des Ifo-Instituts überrascht?
Nein. Wir haben es derzeit mit einer sehr komplizierten wirtschaftlichen Lage zu tun. Während einige Branchen durch die COVID-19-Pandemie kaum beeinträchtigt sind oder gar profitiert haben, befinden sich andere – oft unverschuldet – in einer existentiellen Krise. In vielen Bereichen fehlt es derzeit an jedweder Planungssicherheit. Und die Umsätze bewegen sich seit mittlerweile über einem Jahr auf einem Bruchteil des früheren Niveaus. Selbst eigenkapitalstarke Unternehmen geraten da inzwischen an ihre Grenzen, zumal auch die Auszahlung staatlicher Hilfen bislang überwiegend nur in Form von Abschlägen erfolgt ist.
Die stärksten Existenzängste verspürt die Reisebranche mit 83,7 % der Firmen, Hotels mit 82,3 % sowie Restaurants und Gaststätten mit 72,3 %. Auch der Einzelhandel (34,5 %) und die Dienstleistungsbranche (26,3 %) kämpfen um ihre Existenz. Deckt sich dieses Ergebnis mit Ihren eigenen Erfahrungen?
Ja, dies deckt sich auch mit meinen Erfahrungen. Vermehrt kommt es inzwischen auch zu ersten Insolvenzen vormals tragfähiger Unternehmen, denen inzwischen sowohl Geld als auch eine kurz- und mittelfristige Perspektive zu fehlen scheinen. Kritisch ist die Lage gerade in Bezug auf den Einzelhandel. Im Übrigen nicht nur für die unmittelbaren Händler als Endverkäufer sondern auch die angeschlossenen Warenlieferanten. Da keiner weiß, wann und vor allem in welchem Umfang Öffnungen wieder möglich sein werden, ist das Bestellverhalten der Einzelhändler verständlicherweise sehr zurückhaltend. Entsprechend schwierig ist die Planung und Finanzierung der vorzuproduzierenden Waren. Hier entwickelt sich zusehends ein Teufelskreis. Das Vorproduzieren von (noch) nicht abgerufener oder fix bestellter Ware bindet liquide Mittel und sorgt für reduzierten Handlungsspielraum, falls Einschränkungen noch länger anhalten. Gleichzeitig ist die Lieferfähigkeit zusehends gefährdet, sobald dann Waren nach etwaigen Öffnungen wieder abgerufen werden sollten.
Was hören Sie konkret von betroffenen Unternehmern bzw. was empfehlen sie ihnen?
Es herrscht eine Mischung aus Fatalismus und Berufsoptimismus. Viele versuchen, unabhängig von der Entwicklung des weiteren Pandemiegeschehens zu planen. Sie stoßen aber zunehmend an ihre Grenzen. Leider gilt bis auf Weiteres der berühmte Spruch vom „auf Sicht fliegen“ müssen. Gerade die Planung und Aufrechterhaltung der Liquidität ist aktuell von entscheidender Bedeutung. Unternehmen sollten in der jetzigen Phase unbedingt auf eine stetige Liquiditätsplanung achten, die verschiedene Szenarien der kommenden Monate abbildet. Also sowohl das „Sparflammenszenario“ im anhaltenden Lockdown als auch ein hoffentlich bald wieder mögliches „Wiederhochfahrszenario“ nebst etwaigem Vorfinanzierungsaufwand.
Wie bedrohlich ist die Situation für die rund 2 Millionen Soloselbstständigen?
Das ist individuell sehr verschieden und hängt natürlich im hohen Maße davon ab, ob es noch Rücklagen gibt bzw. welche staatlichen Fördermittel in Betracht kommen und ob diese ausreichend sind. In der Regel passen Menschen ihre Lebenshaltungskosten ja an ihre regelmäßigen Einnahmen an. Für manche Solo-Selbständige – gerade im Eventbereich oder in der Kunstszene im weitesten Sinne – fehlt es nun schon länger an nennenswerten Einnahmen. Und ein möglicher Anspruch auf Sozialleistungen nach dem SGB II („Hartz 4“) ist da nur ein schwacher Trost, um z.B. eine Immobilienfinanzierung oder anderweitige Lebenshaltungskosten oberhalb des Existenzminimums zu tragen. Diese Menschen werden wirtschaftlich besonders hart durch die anhaltenden Einschränkungen getroffen.
Rechnen Sie damit, dass viele von ihnen insolvent werden oder sich still und leise vom Markt verabschieden?
Ich denke beides wird passieren. Schon jetzt beobachte ich ein leises Sterben kleiner Unternehmen. So haben – jedenfalls auch pandemiebedingt – seit Ende Oktober des letzten Jahres beispielsweise in meinem privaten Wohnort in einem Straßenzug von gerade mal 100 Metern der alteingesessene Schuhmacher und Schlüsseldienst, ein kleines Schreibwarengeschäft sowie eine Konditorei alle den Betrieb eingestellt, nach meiner Kenntnis jeweils ohne Insolvenz sondern nur im Rahmen eines stillen Rückzugs. Sicher waren das auch schon vor der Pandemie keine lukrativen Geschäfte mehr. Dennoch ist es traurig mit anzusehen, dass sich solche kleinen Traditionsbetriebe nun vielleicht viel schneller als geplant endgültig zurückziehen. In manchen Innenstädten sieht die Lage genauso erschreckend aus. Neben großen Filialisten, deren strukturellen Probleme im Vergleich zum Online-Handel zu groß waren, verabschieden sich leider auch zahlreiche inhabergeführte Fachgeschäfte vom Markt.
Was empfehlen Sie in dieser angespannten Situation betroffenen Unternehmen, insbesondere den sogenannten KMU?
Sofern weder eine tragfähige Wiederaufnahme des Betriebes darzustellen ist noch die Mittel für eine geordnete Liquidation ausreichen, gibt es Wege aus der Krise zu einem zumindest mittelfristigen schuldenfreien Neustart auch in der Insolvenz. Sei es die nunmehr geltende Restschuldbefreiung ohne Mindestquote nach drei Jahren oder aber eine noch schnellere Lösung über einen Insolvenzplan. Wobei eine Insolvenz sicher immer nur die zweitbeste Lösung darstellt, wenn man sie denn vermeiden kann. So gilt es abzuwägen, ob es eine realistische Chance auf einen Neustart ohne Insolvenz gibt, beispielsweise mit Unterstützung durch Darlehen aus dem Freundes- oder Familienkreis bzw. die Hausbank. Das macht allerdings nur dann Sinn, wenn man davon ausgehen darf, dieses auch in absehbarer Zeit wieder zurückzahlen zu können. Falls das mehr als fraglich erscheint könnte der Weg durch eine Insolvenz doch günstiger sein und sorgt ggfs. für weniger Streitpotential.
Was sollten Steuerberater und Wirtschaftsprüfer in dieser Zeit unbedingt im Auge behalten?
Gerade in unruhigen wirtschaftlichen Zeiten wie jetzt bedarf es erhöhter Sensibilität für die tatsächliche Lage des Mandanten. Hier sind offene Kommunikation und Ehrlichkeit mehr denn je gefragte Tugenden. Dies umso mehr, als durch § 102 StaRuG sogar seit 01.01.2021 eine ausdrückliche Hinweispflicht für den steuerlichen Berater auf eine drohende oder gar bereits eingetretene Insolvenzreife des Mandanten gilt.
Rechnen Sie damit, dass die bislang in Aussicht gestellten staatlichen Unterstützungsprogramm dazu beitragen werden, unternehmerische Existenzen zu retten?
Die entsprechenden Programme sind mit der Zeit ja schrittweise weniger großzügig und an immer strengere Bedingungen geknüpft worden. Sicher kann das erweiterte Kurzarbeitergeld noch vielen Branchen mit hohen Personalkosten über die jetzige Zeit helfen – in der Hoffnung, dass sich die Lage spätestens im Herbst wieder bessert. Andere Branchen haben es da deutlich schwerer, wenn Vorräte faktisch entwertet worden sind – hier ist etwa an die Herbst-Winter-Kollektion 2020/2021 im Textilhandel zu denken, die man nun bestenfalls noch mit Abschlägen unterhalb des Einkaufspreises „verramschen“ können wird. Die anteilige Unterstützung bei den laufenden Fixkosten oder auch das Kurzarbeitergeld werden diesen Verlust kaum kompensieren.